Queer
- Marlies Schneider
- 18. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
von Ken Mertens (er/ihm)
"Dieser Einsatz für queere Sichtbarkeit, für ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Aufwachsen junger queerer Menschen ist dabei nicht nur Ziel unserer Initiative, sondern gleichzeitig ein Aufruf an alle Haupt- und Ehrenamtlichen der Jugendhilfe, professionelle Notwendigkeit und gesetzlicher Auftrag. "
Unsere Gesellschaft ist heteronormativ und patriarchal geprägt – Diskriminierung und strukturelle Gewalt gegen Menschen, die von diesen konstruierten Normen abweichen, sind ihr eingeschrieben. Gesellschaft, ihre Systeme und Akteur*innen privilegieren damit insbesondere Cis-Männer und benachteiligen andere Geschlechter. Beispiele sind die Einschränkung reproduktiver Selbstbestimmung, die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, der Gender-Pay-Gap, die vormals sehr hohen Anforderungen an eine juristische Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität, Ausgrenzung von trans*-Personen aus dem Leistungssport und die generell zunehmenden verbalen Attacken und körperlichen Angriffe auf queere Personen.
Auch bringt Gesellschaft durch ihre Heteronormativität ein Denksystem hervor, in dem ausschließlich die Kategorien (Cis-)„Frau“ und (Cis-)„Mann“ als normal anerkannt werden, deren geschlechtlichen Identitäten vermeintlich unveränderlich sind und sich gegenseitig begehren. Menschen, die trans*, inter*, a*, nicht-binär oder auch schwul, lesbisch, bi oder pan sind, werden hingegen als Abweichung markiert, ausgeschlossen und abgewertet.
„Queer“ ist dabei ein Begriff, der lange Zeit als Schimpfwort im englischen Sprachraum genutzt wurde, um nicht heteronormative Identitäten als sonderbar und eigenartig abzuwerten. Erst im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre konnten soziale Bewegungen queerer Menschen in den USA den Begriff umdeuten, aneignen und somit für sich als positive Besetzung nutzbar machen.
Es gibt dabei aber nicht die eine Definition von queer. Auch ist queer mittlerweile in unterschiedlichen Kontexten (bspw. aktivistisch, akademisch) etabliert. Viele Personen nutzen queer als reinen Sammelbegriff für eine Vielfalt an Lebens- und Liebensweisen (bspw. LGBTIAQ*), doch das Anliegen dieses Begriffes geht noch weiter: Queer soll als Begriff unbestimmt bleiben, Raum für Selbstdeutungen, Öffnung, Viel- und Mehrdeutigkeit ermöglichen. Denn so soll die Konstruktion einer neuen exklusiven Norm im Sinne einer strengen Identitätspolitik verhindert werden.
Dennoch birgt diese Offenheit Gefahr einer möglichen Vereinnahmung durch menschenfeindliche Akteur*innen, die den Begriff missbrauchen und somit die Errungenschaften der queeren Community untergraben und lächerlich machen wollen. Die Nutzung von queer ist nicht zuletzt auch als Verb denkbar: Praxen, Räume, Handlungen, Soziale Arbeit und Jugendhilfe queeren.
Jugendhilfe zu queeren meint konkret, tradierte Vorstellungen von Gender und Sexualität zu hinterfragen und als konstruiert zu erkennen, die Abkehr von einem vermeintlich natürlichen „biologischen Geschlecht“ und Heterosexualität als Norm, intersektionale Verschränkungen von Diskriminierungen (bspw. zwischen race, class, gender) aktiv zu reflektieren und sich als Ally (Verbündete*r) insbesondere für junge queere Menschen, ihre selbstbestimmte Entwicklung und gegen Diskriminierungen einzusetzen.
Das beginnt bei einer kritischen Reflexion der eigenen Angebote und Umgangsweisen im Team (Wie spreche und schreibe ich? Wie bewerbe ich meine Angebote und Räume? Wo ermöglichen wir auch Diskriminierungen gegen queere Personen oder fördern aktiv Exklusion?) und sollte grundsätzlich als Querschnittsthema in jedem Handlungsfeld, in jeder Einrichtung und jedem Dienst mitgedacht werden. Eine zu queerende Jugendhilfe muss jedoch weitergehen und aktiv geschützte Räume für queere junge Menschen ermöglichen – vor allem in Regionen, in denen menschenfeindliche Parteien und Einstellungen an Zuspruch in der Gesellschaft gewinnen.
Dieser Einsatz für queere Sichtbarkeit, für ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Aufwachsen junger queerer Menschen ist dabei nicht nur Ziel unserer Initiative, sondern gleichzeitig ein Aufruf an alle Haupt- und Ehrenamtlichen der Jugendhilfe, professionelle Notwendigkeit und gesetzlicher Auftrag.
Zur Begründung können verschiedene Professions- und Bezugstheorien Sozialer Arbeit herangezogen werden: Von der kritischen Theorie, den Gender Studies und der Queer Theory bis zur Menschenrechtsprofession nach Sylvia Staub-Bernasconi. Doch auch im SGB VIII findet sich ein expliziter Auftrag an die Jugendhilfe, „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern“ (§ 9 S. 1 Nr. 3).


